Zugsocking

Text: Stéphanie Souron

Der Zug hat den Bahnhof von Dörverden gerade verlassen, da bahnt sich im Regionalexpress 4413 von Bremen nach Hannover eine kleine Katastrophe an. „Oh nein, guckt mal, da stimmt doch was nicht“, sagt Sandra und schaut kritisch auf das gestrickte Wollstück in ihren Händen. Ihre Nachbarin beugt sich über das Werk. „Stimmt, da hast Du Dich wohl vertan. Da hilft wohl nur eines: auftrennen.“ Sandra seufzt. Dann zieht sie so lange an dem Wollfaden, bis sich das fehlerhafte Stück ins Nichts aufgelöst hat. „Ich darf einfach nicht so viel schwatzen“, sagt sie zu sich selbst und greift wieder zu den Nadeln.
Es ist Samstagmorgen, 10.40 Uhr, und Sandra nimmt an einem „Zugsocking“ teil, so nennt sich dieser Stricktreff im Regionalexpress. Mit von der Partie sind weitere 13 Frauen aus Niedersachsen, darunter: Kristin, 49, Bibliothekarin, die extra für diese Fahrt ein neues Socken-Strickmuster entworfen und für alle fotokopiert hat. Hella, 52, Grundschullehrerin, die im vergangenen Jahr für ihre gesamte vierte Klasse Socken gestrickt hat. Und Elke, 66, die nach eigenen Angaben seit mindestens 20 Jahren nicht mehr Zug gefahren ist und an einem grünen-weißen Topflappen…nein, nicht strickt, sondern häkelt. „Wir nehmen auch Exoten mit“, sagt Hella und lacht. Ziel der Reise ist Hannover, die Zugsockerinnen wollen dort und in der näheren Umgebung Wolle kaufen. „In der ‚Wollbox’ gibt es nämlich ganz tolle Wolle aus Amerika“, schwärmt Kristin.
Sie könnte die tolle Wolle aus Amerika auch über das Internet bekommen. Aber erstens, sagt Kristin, wolle man die Wolle vor dem Kauf ja auch mal anfassen. Und zweitens könne man sich im Zug ganz fantastisch über Strickmuster, Nadeln, Maschen und Muster unterhalten. „Wir machen regelmäßig solche Ausflüge“, sagt sie. „Das ist ja auch ein Erlebnis.“ Wie fast alle Zugsockerinnen trägt auch Kristin selbst gestrickte Strümpfe („Ehrensache“) und ein Namensschild. Darauf abgebildet ist eine Socke, die einen Zug hinter sich her zieht.
Längst finden sich solche netten Zugsocking-Accessoires im Internet. Denn der Stricktreff in der Bahn ist keine Erfindung aus Niedersachsen, sondern ein Trend, der sich über das gesamte Streckennetz der deutschen Bahn erstreckt. Die Strick-Gruppen verabreden sich in Internet-Foren wie www.ravelry.com und fahren am Wochenende gemeinsam durch die Republik. Ihre Ziele sind Strick-Cafés, Woll-Geschäfte oder Ausstellungen. Meist sitzen sie in den Metronomen und Regionalzügen, seltener in den ICE’s und Eurocitys. Auch dort sieht man seit einiger Zeit vermehrt strickende Menschen. Es sind oft Twentysomethings, die vom Studienort zu Freund oder Familie hetzen und sich die Fahrzeit mit Stricken verkürzen. Die Zugsockerinnen dagegen schätzen gerade die Gemütlichkeit der Regionalzüge. Für sie ist schon der Weg das Ziel. Und wenn der Anschluss futsch ist, wird gelacht und beim Warten das Strickzeug ausgepackt.
Der Zug rattert durch Norddeutschland, draußen fliegt die Landschaft vorbei, drinnen werden Bonbons und Tipps ausgetauscht. „Renate, zeig mal Deinen Adventsschal“, bittet Monika. „Wie hast Du diese Übergänge hingekriegt?“ Der „Adventsschal“ ist ein Projekt von Kristin. In der Vorweihnachtszeit hat sie im Ravelry-Forum jeden Tag ein neues Strickmuster gepostet. Und wer täglich zur Nadel gegriffen hat, konnte sich an Heiligabend einen neuen Halswärmer umlegen. „650 Leute auf der ganzen Welt haben bis zum Schluss mitstrickt“ sagt Kristin stolz. Jetzt laufen also Menschen in Island, Australien und den USA mit einem Schal-Modell aus Bremen herum. Auch das ist Globalisierung.
Normalerweise kommen neue Modelle aus den USA nach Deutschland – wie der ganze Strick-Tick. In Amerika seien regelrechte „Gurus“ am Werk, sagt Kristin. Stricken sei dort eher Kunst als Hand-Arbeit. „Die Amerikaner experimentieren viel mit Farben, Formen und Motiven“, sagt sie und zieht die aktuelle „Knitter’s“ aus der Tasche. Sie blättert durch das amerikanische Strick-Magazin, zeigt sie auf coole Mädchen mit regenbogenfarbenen Schlauchpullovern, die Strickmützen mit Woll-Pyramiden tragen. Und auf junge Männer, die mit offener Strickjacke lässig an der Bar lehnen. „So etwas sieht man in deutschen Strickmagazinen eher selten“, sagt Kristin bedauernd.
Dabei liegt „Selbermachen“ auch hierzulande gerade sehr im Trend: Jahrelang war Stricken, Häkeln und Nähen eine Beschäftigungstherapie für Renterinnen. Jetzt tragen Frauen quer durch alle Altersklasse wieder voller Stolz gestrickten Röcke, Pullover und Kleider. Und wer es nicht selbst kann, ordert bei Omi oder bestellt auf Kreativ-Marktplätzen wie www.dawanda.de oder www.etsy.com. Manchen Strickerinnen benutzen gar die Städte als Bühne für ihre neue Woll-Lust: Wer genau hinsieht, kann in Berlin, Köln und sogar Saarbrücken Laternen entdecken, die ein bunt geringeltes Strick-Leibchen tragen oder Straßenschilder mit einer Pudel-Mütze.
Laut dem Verband „Initiative Handarbeit“ hat der Fachhandel 2009 bei den Handstrickgarnen ein Umsatzplus von mehr als zwölf Prozent erzielt. 270 Millionen Euro betrug der Umsatz mit Wolle – das entspricht mehr als 60 Millionen verkaufter Knäuel. „Die selbst gestrickten Sachen sind eben einzigartig“, sagt Hella, die sich in Hannover fliederfarbene Wolle für einen neuen Rock zulegen möchte. „Kaufen kann ja jeder“, sagt auch Sylvia, 45, Fleuristin, die konzentriert an ein paar pinkfarbenen Babysocken werkelt.
Sie tut das, weil es ihr Spaß macht – und nicht weil es günstig ist. Ein Knäuel mit guter Wolle kostet schon mal 15 Euro und für einen Pullover braucht man davon sechs bis acht. Was die Stricker in der Republik verbindet, ist der Wunsch nach Individualität. Denn selbst wenn elf Menschen das gleiche Muster stricken, sehen die elf Paar Socken am Ende verschieden aus – je nachdem, welche Wolle zum Einsatz kam und wie viel Erfahrung die Stricker mitbringen. Bettina zum Beispiel, die im Regionalexpress an einem Paar Socken für ihren Mann arbeitet, strickt so schnell, dass man als Laie kaum ihren Fingern folgen kann. Kurz vor Hannover ist der Schaft der Socke schon fast fertig. Monika dagegen macht sehr viel bedächtigere Bewegungen und schaut zwischendrin auch mal aus dem Zugfenster.
Dann hält der Zug hält am Hauptbahnhof von Hannover, die Gruppe schlendert zu „Wolle Rödel“ in der Bahnhofspassage. In dem kleinen Geschäft liebäugelt Kristin mit der weißen Pompom-Wolle. „Daraus könnte man gut ein Schaf stricken“, sagt sie. Annegret sucht nach Wolle, die die selbe Farbe hat wie die Mütze auf ihrem Kopf. Als sie sie endlich gefunden hat, kauft sie davon gleich fünf Stück. „Das wird ein sehr langer Schal“, sagt sie zufrieden. Wer hier nicht fündig wird, deckt sich später in dem Wollladen in Gehrden ein. Auf der Rückfahrt nach Bremen jedenfalls haben alle die Taschen voller Wolle und den Kopf voller Ideen für neue Projekte. Und es wird weiter gestrickt: Kristins Socken nehmen Formen an, Elkes Topflappen ist schon fast fertig. Eine perfekte Arbeit, der nur noch ein paar Reihen fehlen. „Schade, dass wir schon ankommen“, sagt Elke. „Ich hätte den gerne noch fertig gekriegt.“ Hella schlägt vor, demnächst eine Zugsocking-Tour von Norddeutschland nach München zu machen. „Da hätten wir viel mehr Zeit zum Stricken“, sagt sie. In Amerika gebe es schließlich sogar Kreuzfahrten für Strick-Fans. Monika lacht. Ihr Mann ist Eisenbahn-Fan, im vergangenen Jahr hat sie mit ihm eine 5000-Kilometer lange Reise im Nostalgie-Zug unternommen. „Mir war nie langweilig“, sagt sie. Wie viele paar Paar Socken sie auf dieser Fahrt gestrickt hat, weiß sie allerdings nicht mehr genau.